Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt

Von Anke Schwarzer · · 2004/11

Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter

Aus dem Amerikanischen übersetzt und bearbeitet von Ingrid Scherf, Britta Grell und Jürgen Pelzer. Verlag Assoziation A, Berlin 2004, 464 Seiten, EUR 29,50

Es war die Zeit des Berliner Kolonialkongresses 1884/85 und der Regentschaft der britischen Königin Viktoria, als vorsichtigen Schätzungen zufolge 50 Millionen Menschen während drei globaler Dürreperioden starben: Es handelte sich um eine Katastrophe planetarischen Ausmaßes. Aus Java, den Philippinen, Neukaledonien, Korea, Brasilien, dem südlichen Afrika und dem Maghreb wurde von Dürre und Hungersnöten berichtet. Bis dahin existierten keine historischen Aufzeichnungen über Hungersnöte, die so viele, weit voneinander entfernte Regionen heimsuchten.
Hintergrund waren die weltweiten Klimaschwankungen, die in der Meteorologie ENSO (El Niño/Southern Oscillation) genannt werden. Doch für das gigantische Ausmaß der Hungersnöte macht der US-amerikanische Soziologe Mike Davis den Raubbau an Mensch und Natur in den Kolonien verantwortlich: Traditionelle Formen des Katastrophenschutzes wurden mit Gewalt zerstört, ebenso wie die vorhandenen komplexen Systeme der Vorratshaltung.
Eine Kernthese des Buches ist, dass die „Dritte Welt“ Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist, als begonnen wurde, die Landwirtschaft außerhalb Europas in die Weltwirtschaft zu integrieren. Erst dann entwickelten sich die großen Einkommens- und Vermögensungleichheiten zwischen den Nationen, die vorher nur zwischen den Klassen bestanden. Davis stellt klar, dass nicht trotz, sondern wegen der Industrialisierung Millionen Menschen verhungert sind. Als Mahnung und weniger als Illustration, so der Autor, seien auch die schockierenden, zeitgenössischen Fotos in dem Band zu verstehen.
Die Anklage des Imperialismus ist nicht neu. Doch Davis weist darauf hin, dass wichtige Historiker, etwa Eric Hobsbawm, den großen Hungersnöten in den Ländern der sich entwickelnden „Dritten Welt“ kaum Beachtung geschenkt und die Weltgeschichte aus der Perspektive der Metropolen geschrieben hätten. Außerdem verknüpft Davis bei seiner Analyse die Rolle der Natur, vor allem der El Niño-Aktivitäten, mit den zerstörerischen Aspekten der imperialen Globalisierung am Ende des 19. Jahrhunderts wie Kriege, Zollpolitik, Exportlandwirtschaft und Einsatz von Opium.
Wie die koloniale Transformation des Produktionssystems den Einfluss von Klimafaktoren geändert hat, ist Davis zentrale Frage. Vor allem die Situation in den Ländern China, Indien und Brasilien beleuchtet er und fördert zahlreiche Details und anschauliches Material zutage. Sein Buch sticht auch deshalb hervor, weil Davis nicht nur die natürlichen und sozialen Bedingungen der Katastrophen untersucht, sondern auch den politisch Verantwortlichen Namen und Gesichter zuordnet. Ebenso stellt er die Kämpfe und Aufstände der verarmten Bauern ins Zentrum seiner Analyse, die zum Beispiel gegen die Verwaltungsbeamten der Kornspeicher, gegen die Getreidespekulanten und die hohen Preise rebellierten.

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